WG88 – Briefentwurf an Alma Mahler
Paris nach Berlin im Zug oder in Berlin, zwischen Mittwoch, 19. und Sonntag, 23. Oktober 1910
Wie ein traurig-
schöner Traum sind
diese Tage vorübergehuscht.
Alles irdische muß
nun mehr und
mehr schwinden, Raum
u Zeit.
Ach, daß Du nicht
unser Kind mit
hinübernehmen
durftest. Wie göttlich
schön wäre es gewor-
den: Salzburg u
dann vielleicht ein
Winter mit Dir!
Deine himmlische
süße Körperlichkeit
von der ich jedes
Härchen grenzenlos
liebe
Die Gedanken
schütte ich wie aus-
gedroschenes Korn
ohne Schale im
Zusammenerhalt
vor Dich hin
Deine Zärtlichkeiten
die eine – ! weißt
Du was ich meine?
Oft habe ich mich be-
müht das Fühlen
zu verlernen
Ich fand bisher
unter den Frauen nichts
als Sinnloskeit [!] u
Eitelkeit. Du bist
die erste, die die
Liebe höher auffaßt
als so.
Ich will mein Unge-
stüm bändigen. Das
Recevoir et jamais
prendre ist für
mein Wesen das
angemessene. Wenn ich
Geschick zum Verführen
hätte, bei Dir würde ich es
nie angewendet haben
Apparat
Überlieferung
, , , , , .
Quellenbeschreibung
3 Bl. (3 b. S.) – Notizblock.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
keine.
Datierung
Anhand eines einzigen Wortes lässt sich dieser Entwurf in die Zeit des Überseeaufenthalts AMs einordnen: Ach, daß Du nicht unser Kind mit hinübernehmen durftest, wobei sich hinübernehmen auf die USA bezieht. Inhaltlich schrieb WG in diesem Entwurf ausführlich über die schönen Stunden, die die Beiden gerade erst erlebt hatten wie die Aussage Wie ein traurig-schöner Traum sind diese Tage vorübergehuscht nahelegt, weshalb dieser Entwurf relativ kurz nach dem Abschied entstanden sein muss, vielleicht sogar im Zug auf dem Rückweg nach Berlin. WG fuhr wahrscheinlich am 19. in Paris ab und kam am 20. Oktober 1910 wieder in Berlin an (s. WG87). Laut der eigens von WG angelegten Liste seiner an AM während ihres USA-Aufenthalts abgeschickten Briefe (WG92) wurden die beiden ersten am 21. und 23. Oktober versendet, weshalb anzunehmen ist, dass WG88 ungefähr im Zeitraum zwischen 19. und 23. Oktober 1910 entstanden sein muss.
Übertragung/Mitarbeit
(Bettina Schuster)
nicht unser Kind – Bei dieser Äußerung stellt sich die Frage, woher wissen konnte, dass nicht schwanger war, als sie in die USA reiste. Bemerkungen im weiteren Briefwechsel lassen vermuten, dass und während der Tage im Orientexpress und in Paris keinen Geschlechtsverkehr hatten, wodurch sich Aussage erklärt. In AM43 vom 27. Oktober 1910 heißt es entsprechend: Ich denke mit Wehmuth der ungenützten Stunden und verspreche Dir, mich für Dich aufzuheben. Siehe auch WG102 vom 11. bis 14. November 1910.
Salzburg u dann vielleicht ein Winter mit Dir! – In AM5 vom wahrscheinlich 20. Juli 1910 hatte vorgeschlagen, sich Mitte August in Salzburg zu treffen, um dort ein Kind zu zeugen.
jedes Härchen – s. AM6 vom 21. Juli 1910: Es gibt nicht ein Härchen an Dir, das ich nicht durch die Lippen ziehen möchte.
Recevoir et jamais prendre – zu Deutsch: „Empfangen und niemals nehmen“, womit wahrscheinlich ein passives Empfangen oder Annehmen im Gegensatz zum aktiven Verlangen oder Fordern meinte. gebrauchte die Formulierung in seinem Tagebuch (12. September 1811, , S. 402).